Heute habe ich meine Ärztin aufgesucht, um mit ihr über das Absetzen meine Medikamente zu sprechen. Mittlerweile nehme ich für meinen Geschmack einfach viel zu viele davon. Das widerstrebt mir jedoch von Tag zu Tag immer mehr. Natürlich bin ich mir bewusst, dass ich nicht auf alle Medikamente verzichten kann, aber es auf ein gesünderes Maß zu reduzieren, könnte ja nicht schaden. Wir haben mit der Zeit sogar ein Medikament gefunden, das mir erlaubt hat meine Beta-Blocker abzusetzen. Somit war ich also guter Dinge als ich mich auf den Weg machte.
Nach einer längeren Unterredung fiel die Wahl auf ein Medikament, das für mich persönlich die unangenehmsten Nebenwirkungen hat. Über 14 Tage sollte ich meinen Körper darauf vorbereiten, dann würde ich sie ganz absetzen. Soweit so gut. Das war doch endlich mal wieder ein Plan.
Manchmal, wirklich manchmal könnte ich mir persönlich die Nase lang ziehen, für irgendeine dumme Aktion. Ja, auch heute habe ich ohne zu überlegen etwas getan, dass ich hätte nicht tun sollen.
Kennt ihr das Phänomen, dass euch jemand von einer Verletzung, einer Krankheit oder einem anderen körperlichen Manko berichtet und ihr es fast körperlich nachfühlen könnt? Also nicht den Schmerz, aber ein ungutes Gefühl an der beschriebenen Stelle. Gruselig.
Und ich bin nun mal wie ich bin und daher lese ich auch nie die Beipackzettel von Medikamenten. Sonst habe ich sofort „Beipackzettel-Nebenwirkungs-Krankeritis“ und dieses unangenehme Gefühl setzt ein. Natürlich bin ich intelligent genug um zu wissen, dass ich vom Lesen keine Nebenwirkungen bekomme, aber erzähl das mal meinem Nebenwirkungs-Hirn.
Ich Intelligenzbestie gehe also an meinen Rechner um gutgelaunt nachzuschauen, welche potenziellen Nebenwirkungen noch verschwinden könnten. Und dort lese ich (hier gekürzt):
Orthostatische Störungen
Kenne ich nicht, also bekomme ich das auch nicht.
Empfindungsstörungen wie Schwindel und Höhenangst
Habe ich doch auch jetzt schon. Nur habe ich gelernt das ich eigentlich Fallangst habe.
Motorische Störungen
Ihr solltet mich mal im Zumba Kurs sehen. Schlimmer kann es nicht kommen.
Schlafstörungen, lebhafte Träume, Müdigkeit, Tagschläfrigkeit
Habe ich vielleicht schon immer das Absetzsyndrom?
Verdauungsstörungen
Da hilft sicher Glaubersalz oder Kohle – positiv denken.
Stimmungsschwankungen, Muskelkrämpfe, Zittern, aggressives Verhalten, Manie, schwere Depression und Suizidgedanken
Wie bitte? Muskelkrämpfe? Jetzt nicht ernsthaft, oder? Krämpfe? Das ist nicht akzeptabel. Das ist noch vor Zahnschmerzen, dass schlimmste was man mir antun kann. Mein Galgenhumor war mit einem Schlag verflogen.
Dann kam nur noch die Post-SSRI-bedingte sexuelle Dysfunktion.
Und was soll das bitte nun schon wieder sein? Bestimmt irgendwas mit Krämpfen. Also fragen wir doch mal Tante Wikipedia.
„… muss mit sexuellen Störungen (vor allem Orgasmus Schwierigkeiten) gerechnet werden, auch wenn diese meist vorübergehender Natur sind. In manchen Fällen können sie jedoch auch nach dem Absetzen des SSRI über Monate oder Jahre fortbestehen; unter Umständen bleiben sie permanent bestehen …“
Monate? Jahre? Für immer? Moment, das muss ich nochmal lesen. Tatsache, da steht immer noch das gleiche und ich kann auch nichts anderes herauslesen. Ich war mit offenem Mund in Fassungslosigkeit erstarrt.
Bei mir wurde eine PTBS diagnostiziert. Ich kann nicht wirklich behaupten, dass es mir zu dem damaligen Zeitpunkt gut ging. Ich war dankbar für die Medikamente, die mich in „relativ“ kurzer Zeit wieder in die Spur gebracht haben. ABER ….!!! Ich bin mir fast 100 Prozent sicher, dass ich dieses Medikament nicht genommen hätte, wenn mich jemand darauf hingewiesen hätte. Für immer?
Einen Vorteil hatte diese Aktion. Ich war gedanklich so sehr mit meiner sterbenden Libido beschäftigt, dass ich darüber die Krämpfe ganz vergessen hatte. Dann verkündete eine E-Mail in meinem Postfach, dass Psychatrie to go einen neuen Beitrag veröffentlicht hat mit dem Klangvollen Titel „zaps als Absetzerscheinung von SSRI„. Ach nein, was ist denn das wieder für ein Zeug?! Und ich lese ihn natürlich gleich und gehe sogar noch auf die hinterlegen Links.
Ach Julusch, warum machst du das schon wieder!? Ich fasse mal für euch zusammen: Zaps sind wohl so etwas wie gefühlte Stromschläge, die ganz sicher Krämpfe auslösen oder sich so anfühlen wie Krämpfe. Und Krämpfe lösen ganz sicher auch Zaps aus, die dann wiederum zu Krämpfen führen. Und es tut vielleicht weh oder auch nicht, aber die Krämpfe schmerzen schrecklich und dadurch dann ganz sicher auch die Zaps. Und habe ich erwähnt das man davon Krämpfe bekommen kann?
So oder so ähnlich hat mein Hirn das verstanden.
Und es dauerte noch nicht einmal eine Minute bis ich das Gefühl hatte „beginnende Zaps“ fast überall zu spüren. Es kribbelte hier und kribbelte da und im Finger stach es plötzlich und warum fühlt sich meine Kopfhaut so seltsam an? Führen Zaps zu Schlaganfällen? Wohl kaum, aber ich bin ja kein Arzt. Und wenn ich einen „Schlagzap“ bekomme, der dann sicher Krämpfe auslöst, verkrampft sich auch mein Herzmuskel? Oh mein Gott! Ich bekomme sicher einen Hirn-Herz-Muskel-Zap und gehe elend zugrunde.
Ich schrieb sofort mein Kommentar unter den Beitrag. Sicher ist sicher. Warum musste er auch unbedingt heute diesen Beitrag posten? Das hätte doch auch noch zwei Wochen Zeit gehabt. Ich bekam auch direkt Antwort und aufmunternde Worte. Danke dafür. Während mein Mann mich nur müde belächelte.
Da hilft nur der Angriff nach vorne. Schnell viel Sport machen bis alles schmerzt. Gesagt und getan und mir ging es danach besser. So gut sogar, dass ich mich noch hingesetzt habe um diesen Beitrag zu schreiben. Und soll ich euch etwas verraten? Während ich das hier schreibe, werden meiner Fingerkuppen immer tauber und es piekst unangenehm so ziemlich überall.
„Zapperitis“ ganz ohne Fernbedienung – das kann ja auch wieder nur mir passieren.
Eure Julusch
4 Antworten zu “Heute als Sonderbeilage: Beipackzettel-Nebenwirkungs-Krankeritis”
Ich habe zumindest was die Gesellschaft angeht und viele andren Bereiche, meinen Weg gefunden. Ich setzte mich nicht mehr mit Sachen auseinander, die ich nicht ändern kann. Also rege ich mich nicht auf, und konzentriere mich lieber auf die Bereiche, bei denn ich noch etwas bewirken kann.
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Wenn die Gefühle dem Verstand folgen würden, dann hätten wir alle ein entspanntes und vor allem ein langweiliges Leben. An Tagen wie heute erscheint mir die Idee jedoch verführerisch. Einfach mal alles abschalten und im Geiste vogelfrei und zufrieden sein.
Ich lese keine Beipackzettel – normalerweise ist es auch definitiv besser so. Gerade zu beginn hatte ich mir ein paar Nebenwirkungen zugelegt, aber alles noch in einem erträglichen Maß. Zittern, Mundtrockenheit, Gewichtszunahme (in einem nicht erträglichen Maß). Mit den Wochen verschwanden die Symptome wieder. Nur das Fett blieb und der Freitod meiner Libido. Juhu! Aber das würde jetzt hier zu weit gehen.
Auch mit dem Gesellschaftsphänomen stimme ich dir komplett zu. Ich könnte über die Allmacht der Medizin einen ganzen Blog füllen. Eher über die nicht vorhandene Allmacht derer. Man darf sich heutzutage keine großen Gedanken über unsere gesellschaftlichen Normen machen. Sonst verzweifelt man daran, zumindest ich.
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Ein großes Thema – mit den Gefühlen und dem Verstand – bei dem ich selbst für mich noch nicht soweit gekommen bin, einen logischen Zusammenhang zu erkennen wie es für mich funktioniert. Ich glaube nicht, dass es ein langweiliges Leben wäre, denn auf die Irrungen und Wirrungen würde ich gerne verzichten, die ich statt dessen erlebe. Ich denke, es gibt bestimmte Gesetze, wie das funktioniert, nur kann ich sie nicht anwenden – oder so.
Was du von deinen Nebenwirkungen erwähnst… Da war dein Impuls ja sehr gut, mal zu sehen, was du von den ganzen Medikamenten wieder absetzen kannst. Und da wirst du auch dran bleiben, bis dein Leben wieder dem folgt, wie du leben möchtest, nehme ich an. Manchmal ist man halt in einer Akutsituation froh um schnelle Hilfe. Die Kehrseite macht sich erst später bemerkbar. Und dann fängt man in der Regel an, um seine eigene innere Unabhängigkeit und Freiheit wieder zu kämpfen. Und das ist auch eine gute Motivation, um dem auf die Spur zu kommen, was Krankheit wirklich ausmacht und wie man damit sonst noch umgehen kann, außer zum Gott in Weiß zu gehen und dort auch gleich sein Hirn mit abzugeben.
Sich Gedanken über gesellschaftliche Normen machen, das kommt automatisch ab und an, bei mir jedenfalls. Aber ich möchte nicht mehr DEN FEIND für mich draus machen, weil dabei nix Konstruktives rauskommt. Ich kann nur versuchen, soweit es mir jeweils gelingt, meinen eigenen Weg zu gehen und DIE Glaubenssätze für mich zu erkennen und zu verändern, die mich gefangen halten. Was derweil die Gesellschaft macht, darauf hab ich keinen Einfluss.
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Ein Gesellschaftsphänomen und zwar ein gaaanz breites, dass wir von der Medizin und ihrer angeblichen Allmacht abhängig geworden sind. Der Weg da heraus kann im Moment aus meiner Sicht nur ein ganz persönlicher sein und der ist manchmal lang. Aber aus meiner Sicht lohnt er sich, auch wenn er einhergeht damit, teils massive Ängste aushalten zu müssen.
Dass das, was da alles in den Beipackzetteln steht, einfach drauf steht, damit man den Hersteller wegen all solcher Nebenwirkungen nicht belangen kann, ist dir sicher bewusst. Weswegen niemand davon ausgehen würde, dass man das alles wirklich bekommt, was dort steht. Trotzdem folgen die Gefühle nicht immer dem logischen Verstand und damit will erst mal umgehen gelernt sein.
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