Prolog
Bevor ich angefangen habe diesen Manifest zu schreiben, was für den einfachen Leser eine Zumutung darstellen wird, stand ich vor einer unglaublichen Herausforderung. Lange habe ich auf einen leeren Monitor gestarrt und jeder Anfang fiel mir sehr schwer. Dieser Beitrag wird lang, eine Auflistung von Ereignissen, ohne einen Spannungsbogen und ohne Happy End.
Wenn ich etwas gelernt habe in der letzten Zeit, dann ist es die Tatsache, dass Schreiben wirklich befreiend wirkt. Ich habe in meinem Beitrag zur „Schwarzware“ bereits ausführlich davon berichtet. Nun habe ich doch die letzten Tage damit zugebracht, angeschwärzt diese Geschichte niederzuschreiben. Immer in der Hoffnung, dass auch diese Geschichte, sobald sie nicht mehr in der Schublade liegt, ihren Weg geht und sich somit nicht mehr lange bei mir aufhält.
Ich werde meinem ersten Ritter hier einen Raum geben. Aber es sträubt sich noch etwas in mir. Warum? Weil er keinen Raum verdient hat und dann wieder schon. Nein, eigentlich gerade deshalb. Er bekommt diesen Raum, weil er keinen verdient hat.
Ich denke so langsam wird es wirklich Zeit.
Mein erster Ritter oder der Mann den es nie gab
Es ist für mich ein zweischneidiges Schwert, hier diese Worte in Pixel zu verpacken. Jedem einzelnen da draußen in der Welt, kann ich von meinem ersten und auch letzten Ritter erzählen. Frage mich was du willst, und du bekommst eine ehrliche Antwort. Aber ich möchte nicht das er diese Worte liest. Das Risiko ist zwar wirklich verschwindend gering, aber es würde mich stören. Einfach weil er es nicht verstehen würde. Er würde keines dieser Wort als das nehmen können was sie sind, die Geschichte eines Mannes den es nie gab.
Alles begann an einem heißen Tag in Orgrimmar, einer Stadt in dem Onlinespiel World of Warcraft. Ich stand wie so oft mit meinem Avatar an meinem Lieblingskaktus herum und redete mit einigen Mitspielern. Eine Person im Chat und drei weitere Personen waren auf der Tonspur über meine Kopfhörer dazu geschaltet. Dort begegnete ich ihm zum ersten mal. Ich kann mich seltsamerweise noch genau an diesen Moment erinnern, als er sich vor mich stellte und mich ansprach. Laut seiner Aussage gehörte er jetzt wohl zu meiner Gilde, die in diesem Spiel einen Zusammenschluss von mehreren Menschen abbildet. Ich nenne sie mittlerweile liebevoll meine Bande. Zu diesem Zeitpunkt waren etwa 100 Menschen Teil dieser Gilde, die mit verschieden Avataren beigetreten sind. Also war es nicht verwunderlich, dass ich ihn nicht kannte. Wie so oft, ging es bei dieser Vorstellung, nur um eine Darstellung der erreichten Ausrüstungsstufen. Um es einfacher für euch zu formulieren: Er hat mich angesprochen, um mit seinem Avatar anzugeben. Ich schenkte ihm zwei bis drei anerkennende Phrasen und verdrehte vor dem Computer die Augen – einfach lächeln und winken.
Am Abend erfuhr ich von meinem Cousin, dass er diesen Jungen angeschleppt hatte. Er erklärte mir, dass der Kerl mit seiner Freundin gildenlos (das sieht man über dem Kopf des Avatar) in der Stadt herumstand und sie ins Gespräch kamen. Der Neue war, so berichtete er, also ein ehemaliger Progress Spieler (sehr erfolgsorientierte Spieler), der seine eigene Gilde auf einem anderen Server nach einer Pause zurück gelassen hat. Er machte einen netten Eindruck und daraufhin hätte er beide in unsere Gemeinschaft eingeladen.
„Ach Menno, warum machst du sowas? Was wollen wir den mit einem Progress Spieler? Der passt doch überhaupt nicht bei uns rein.“
Es gab wirklich ein bis zwei guten Gilden auf unserem Server, die genau diese Spielweise unterstützten und lebten. Er hätte dort sicher einen besseren Platz gefunden. Jetzt war das Kind nur leider schon in den Brunnen gefallen. Er würde es in unserem Haufen nicht so lange aushalten – vollkommen unterschiedliche Vorstellungen. Beide würden sicher bald von dannen ziehen und das Problem wäre gelöst. Dachte ich leider wirklich.
Um hier gleich mal ein Gerücht vorwegzunehmen. Nicht alle Spieler sind einsame Menschen oder suchtgefährdete Teenies. Durch dieses Spiel lernt man viele Menschen kennen. Durch alle Gesellschaftsschichten hinweg und in jeder Altersklasse. Und daraus sind in meinem Umfeld, sehr viele Freundschaften entstanden. Wir treffen uns nicht nur „online“, sondern auch sehr oft im „richtigen Leben“. Es ist ein Hobby, das man mit anderen teilt. Man schließt sich zusammen, entwickelt Strategien, veranstaltet Happenings, man zieht zusammen in die virtuelle Welt und redet viel miteinander, auch wenn die Stimmen aus dem Kopfhörer kommen. Stellt es euch vor, wie eine telefonische Standleitung, bei der sich bis zu 100 Personen einwählen können. Also eine gigantische Telefonkonferenz.
Jedenfalls kann ich nicht mehr nachvollziehen, ob zwischen diesem und unserem nächsten Gespräch Tage oder Wochen lagen. Ich hatte ihn gleich wieder komplett ausgeblendet. Meine nächste Erinnerung an ihn ist ein „Rundflug“ irgendwann in einer Nacht. Er holte mich mit seinem Drachen ab und flog mich durch die ganze virtuelle Welt. An den Inhalt unsere Gespräche kann ich mich auch nicht mehr erinnern.
In der Zwischenzeit lernte ich ihn besser kennen, und wenn ich ihn mit wenigen Eigenschaften beschreiben soll, dann muss ich nicht lange überlegen. Die Attribute sind schnell gefunden:
- Eitelkeit
- Arroganz
- Selbstüberschätzung
- Hilfsbereitschaft
Ich bekam öfters das volle Programm seiner Eitelkeiten zu spüren, während er auf der anderen Seite, mit viel Engagement und Hilfsbereitschaft, die gesamte Bande unterstützte. Er war immer zuvorkommend und eine fast unversiegbare Quelle an Informationen. Er war wirklich ein Gewinn für meine Bande. Musste selbst ich irgendwann zugeben.
Wir beide gingen nicht immer harmonisch miteinander um. Wir lieferten uns in regelmäßigen Abständen einen Schlagabtausch vor der ganzen Gilde. Warum? Weil dieser Halunke extrem schlagfertig war und mir durchaus in nichts nachstand. Ich habe wirklich schon ein paar harte „Klatschen“ von ihm einstecken müssen. Er war sehr kreativ darin, mich in meine Schranken zu weisen. Und wurde auch nicht müde, es mir mit einer Arroganz unter die Nase zu reiben, dass mir manchmal der Atem wegbliebt. Kurz um: Ich hatte eine riesengroße Menge an Spaß.
Wir gehen weiter in der Geschichte. Mein letzter Ritter (damals noch nicht einmal der Knappe, des Knappen, des Fahnenträgers eines Ritters) wollte Gold aus der Gildenkasse haben, um eine Eintrittskarte für die sogenannte „Arena“ zu kaufen und ich sollte mit meinem Avatar an den Kämpfen teilnehmen. Mein Interesse an diesem Geschäft und diesen Kämpfen, lag bei etwas unter null Prozent.
Das letzte Wort war anscheinend noch nicht gesprochen, denn er ließ keine Möglichkeit aus, um in dieser Sache die Gilde auf seine Seite zu bringen. Ob er das am Ende durch Charme oder Erpressung erreicht hat, wird mir auch verborgen bleiben. Aber immer mehr Mitglieder nervten mich mit der permanenten Aufforderung, in die Arena zu steigen. An irgendeinem späten Abend, nach genau einem Glas Wein zu viel, gab ich mich der Meute gegenüber geschlagen und willigte ein. Der Jubel war groß und wir machten uns mit mehreren Personen auf den Weg in die Arena. Jeder spendierte mir noch ein paar „Verbesserungen“ für meine Ausrüstung und dann wurde ich armes Ding in den Kampf geschickt. Der erste Gegner lag auf Anhieb im Dreck, und die Meute jubelte. Den Rest den Abends verbrachte ich dann mehr liegend als kämpfend. Ich mochte die Grube nicht – wie die Arena von nun an für mich hieß.
Die Erfolge blieben aus – ah, welch‘ eine Überraschung – und mit den Tagen liefen meine Unterstützer wieder davon. Nur ich musste bleiben. Mit einer Nachhaltig, die einem das Wasser in die Augen treiben kann, schleppte der Junge mich Nacht für Nacht, für Nacht, für Nacht in die Grube. Ich mochte die Grube nicht.
Warum ich jede Nacht weiterhin mitgegangen bin? Weil ich ein Trottel bin und einen schwachen Moment zum Opfer gefallen bin. Um das Gold für diese Einladung zu bekommen, haben sehr viele Mitglieder meiner Bande, sehr viel tun müssen. Derjenige, der die Einladung erhält, muss bis zu einer bestimmten Stufe kämpfen, um dann wiederum eine Einladung zu erhalten. Diese sollte ich dann an den nächsten in der Gilde geben, der wieder kämpfen wird und dann der nächste und nächste etc. Somit wäre die Gilde durch den Erwerb dieser einen Einladung in der Lage, an den Kämpfen teilzunehmen. Soviel zur Theorie. Ich war der Chef, ich Idiot hatte zugesagt, also musste ich Trottel kämpfen. Für Ruhm und Ehre meiner Bande. Ich mochte die Grube nicht.
Eigentlich hätte ich ihm dankbar sein sollen, den er harrte Nacht für Nacht mit mir aus. Erklärte mir alle Kämpfe und Abläufe, gab mir viele Tipps und nicht zuletzt steuerte er mich verbal durch jeden Kampf.
„Spring! – Jetzt nach rechts – Dämon heilen – Achtung! Weg da – Schaden auf den Gegner – Heile dich! – In die Ecke, schnell! – Dämon heilen – Heil dich“
Es war einfach nicht meine Welt. Wenn ich mal wieder im Dreck lag, dann hob er mich auf, klopfte mir den Staub und von Kleidern, sprach mir Mut zu, um mir dann zu erklären, dass ich nicht seinen Anweisungen gefolgt bin. Ein Klugscheißer und Besserwisser vor dem Herrn. Ich mochte die Grube nicht und Dankbarkeit ihm gegenüber war ein Fremdwort für mich. Unser Umgangston wurde, zumindest in der Grube, immer schlimmer und rutschte teilweise schon weit unter die Gürtellinie. Ich war mehr und mehr von den Kämpfen gelangweilt und genervt, was normal ist, wenn man immer verliert. Er beschwerte sich wiederum über mein fehlendes Engagement und meinen nachlassenden Einsatz.
Gelegentlich gingen dann die Nerven mit mir durch und auch bei mir sank das Niveau in den Keller. Es fielen schon mal ein paar sehr derbe Sätze wie: „Du stehst nur hier draußen herum und siehst zu, während ich mich im Dreck wälzen muss, und mir ein NPC nach dem anderen in den A***h f***t.“ Um eine passende Antwort war er nie verlegen: „Komm schon Baby, du stehst doch in Wirklichkeit darauf. Warum würdest du sonst jede Nacht hier mit mir verbringen? Du willst doch g*****t werden.“
Wenn ich heute einen Schuldigen für alles benennen dürfte, dann wäre es sicher die Grube. Sie senkte die Schwelle und der Kontakt wurde persönlicher, zu persönlich. Wir haben über so vieles gesprochen und auch über Dinge, über die wir besser hätten schweigen sollen. In der Grube und auch in der Zeit danach.
Für ihn war es sicher nicht immer einfach. Die Stunden zogen sich auch für ihn unendlich in die Länge. Er wollte befördert werden und in den Kreis der „Offiziere“ aufsteigen. Für ihn war die intensive Zeit mit mir eine Investition in die Zukunft. Viel geschlafen hat er jedenfalls nicht.
Ich hatte inzwischen einen Narren an dem Kerl gefressen. Ich fand ihn einfach toll und mochte ihn wirklich. Vor allem, weil er genau so war, wie er war. Ich mochte seine überzogenen Vorstellungen, sein eitles Gehabe, seine Frechheiten und ich liebte diese kleinen arroganten Kiekser in seiner Stimme, wenn er in seinen „Oberlehrer Ton“ wechselte. WUNDERBAR. Ich kenne sonst keinen Menschen, bei dem es so einfach ist alle Emotionen aus der Stimme herauszuhören. Bis heute steht für mich einzig und allein seine Stimme für meinen ersten Ritter.
Durch seine unglaubliche Selbstüberschätzung, brachte er mich ständig zum Lachen. Was natürlich dazu führte, dass wir immer wieder in Streitigkeiten gerieten. Wie heftig ein Streit war, konnte man an einem einfache Faktor ablesen. Wenn er sich am nächsten Tag direkt morgens bei mir meldete und mich zum Gespräch zitierte, dann durfte ich mich auf eine größere Diskussion einstellen. Meldete er sich erst Mittags, dann kam ich mit einer Abmahnung davon. Selbstverständlich habe ich meinen Standpunkt der nächtlichen Diskussion nie aufgegeben, bis auf ein einziges mal. Da bin ich wohl ein bisschen zu weit gegangen. Ansonsten war ich nicht bereit, dem eitlen Snob auch nur einen Meter Raum zu geben.
Immer wieder spannend war am nächsten Tag der Satz, der eigentlich immer nach einem Streit folgte: „Pearl (mein Avatar im Spiel), so etwas darfst du einem Mann nicht sagen. Mir persönlich ist es egal, denn ich Ruhe in mir Selbst, aber andere Männer verletzt du damit.“ Wahlweise kann man den letzten Teil auch austauschen gegen: … anderen Männern machst du damit Angst … andere Männer schüchterst du damit ein … andere Männer dies und das. Für so einen harten Knochen war er gelegentlich ganz schön dünnhäutig. Oh Verzeihung, ich meinte natürlich, dass die anderen Männer gelegentlich sehr dünnhäutig waren. Er ruht ja in sich selbst. Na ja, ihr wisst schon. Es war nicht immer leicht für mich ihn einzuschätzen, wenn er sich außerhalb der Norm bewegte. Leicht machte er es einem wirklich nicht.
Ich durfte mir in der Zwischenzeit von den ranghöchsten Spielern, meinen Offizieren, eine Menge Hohn und Spott abholen. So wirklich verstehen konnte keiner, warum ich mich dauernd mit dem Kerl umgab. Zumindest bei meinen Offizieren, war er nicht wirklich beliebt. Solche Sätze hörte ich öfters:
„Wie kannst du nur jeden Tag diesen arroganten Kerl ertragen? Warum ist er überhaupt noch in der Gilde?“
„Langsam wirst du alt, siehst Du denn nicht, das er sich nur „hochschlafen“ will? Mache ihn bloß nicht zum Offizier.“
Mein Mann war auch nicht gerade besonders angetan, von meiner offenen Begeisterung für ihn. Ich machte kein Geheimnis daraus, warum auch? Ich hatte nicht wirklich etwas zu verbergen und keinerlei Ambitionen etwas an meiner Lebenssituation zu ändern. Er käme als Lebensabschnittsgefährte, wie es jetzt so schön heißt, niemals in Frage. Thematisiert haben wir es natürlich schon, in einer der vielen Nächte, und auch ganz offen darüber gesprochen. Ein „wir“ auf einer höheren Ebene würde es niemals geben. Das wollte keiner von uns beiden.
Die Tage zogen ins Land und ich habe mich immer mehr auf ihn verlassen. Wenn ich etwas suchte, dann fragte ich ihn. Wen ich etwas brauchte, dann fragte ich ihn. Benötigte ich Hilfe, dann fragte ich ihn. Irgendwann, ich kann den Zeitpunkt nicht definieren, ging es im privaten Bereich weiter. Hatte ich Stress auf der Arbeit, dann sprach ich mit ihm. Wenn ich mich über etwas aufregte, dann sprach ich mit ihm und wenn ich vor einer wichtigen Entscheidung stand, dann – welch‘ Überraschung – reflektierte ich auch mit ihm.
Natürlich habe ich – voller Stolz wie ich nun mal war – immer versucht ihm die Rolle, die er in meinem Leben eingenommen hat, nicht vor Augen zu führen. Es gelang mir meistens ganz gut. Die obligatorischen „Klatschen“ setzte ich nach wie vor ein, um eine gewisse Balance zu schaffen. Möglichkeiten gab es immer genug. Heute kommt es mir wie eine riesige „Kindergarten Inszenierung“ vor, aber zum damaligen Zeitpunkt, hätte ich mir lieber die Hände abgehackt, als vor ihm zuzugeben, dass er mich längst um den kleinen Finger gewickelt hatte. Und so gingen die Spiele einfach weiter.
Mein kleines eitles Kätzchen, eines Tages hatte ich ihn wirklich an den E***n!
Ich kannte sein Profilbild in Facebook, ein normaler Kerl mit kurzen Haaren. Nicht mehr und nicht weniger. Aber auf der Facebook Seite seiner Freundin, entdeckte ein wirklich nettes Bild von ihm. Tja nun … wenn man doch so darauf bedacht ist, immer der „Pfau im Hühnerstahl“ zu sein, dann sollte man solche Bilder nicht der Öffentlichkeit zugänglich machen. Ich kann versuchen es politisch korrekt zu beschreiben oder ich sage einfach wie es ist: Der ganze Mann in seinem Aufzug, sah einfach nur lächerlich aus. Ich habe es mir nicht nehmen lassen, ihn auf das Foto anzusprechen. Der Dialog, den ich hier als Beispiel aufführe, war typisch für eine „Klatsche“ und den Umgang zwischen uns:
„Jetzt sag mir nicht, dass du der Kerl in der 3/4 Hose bist?“
„Ja, das bin ich.“
Ich lache.
„Warum lachst du?“
Ich lache noch lauter, er wird langsam genervt.
„So läufst du doch nicht auf der Straße herum? In einer beigen 3/4 Hose, blauen HOCHGEZOGENEN Socken und schwarzen Schuhen.“
Ich lache noch immer.
„Es war kalt und ich laufe so normal nicht herum. Außerdem habe ich die Hose aus Versehen eingepackt. Ich habe im Schrank die falsche gegriffen.“
Ich lache noch mehr.
„Hase, egal ob du die falsche Hose gegriffen hast, du hast sowas im Schrank, das reicht schon.“
Ich lache.
Wenn er wirklich angefressen ist, neigt er zu übertriebenen Maßnahmen und Aussagen. Für mich war es sehr schwer einzuschätzen, wann ich zu weit gehe und übertreibe. „Klatschen“ müssen richtig weh tun, aber sie sollen nicht verletzten. Er bestand darauf mir zu beweisen, dass er normalerweise nicht so herum läuft und schickte mir ein Bild. Ein hochauflösendes Bild, das sich riesengroß auf meinem Monitor öffnete. Das nächste Bild kommt an. Ich blinzle und sehe mir auch das an, während schon das nächste eintrifft.
Ich lachte nicht mehr.
Ich glaube, ich habe sogar für einen Moment die Contenance und die Fassung verloren.
Ich formuliere es mal sehr vorsichtig. Ich weiß bis heute noch nicht, wie er jeden Tag auf der Straße herum läuft. Ich bin mir aber absolut sicher, dass er normalerweise wesentlich mehr Kleidung trägt. Und ich finde, dass er am besten NIE WIEDER Kleidung tragen sollte. Nirgendwo. Der Sieg nach Punkten ging an diesem Abend definitiv an ihn.
An Heiligabend des gleichen Jahres wurde auch mir erstmals wirklich bewusst, dass das alles einen „Hauch“ aus dem Ruder gelaufen ist. Vielleicht etwas spät, aber späte Einsicht ist auch eine Einsicht. Am Vorabend sprachen wir wieder miteinander, wir redeten und es wurde Nacht und wir redeten weiter. Über was oder wen? Ich habe keine Ahnung. Jedenfalls verabschiedeten wir uns erst in den Morgenstunden. Ich ging ins Bett, um gefühlte 30 Minuten später wieder geweckt zu werden.
Ich hasse morgens, ich hasse müde und beides in Kombination, lässt mich nicht zu einem netten Menschen werden. Aber es war Heiligabend und die Gans musste in den Ofen. Also habe ich versucht mir nichts anzumerken zu lassen, was mich unendlich viel Kraft gekostet hat. Und wozu das alles? Es war mehr als an der Zeit, die Abende und vor allem die Nächte wieder mit den Menschen zu verbringen, die wir liebten. Als kleines Weihnachtsgeschenk bekam er seine hart erarbeitete Beförderung, nur offiziell durfte ich es noch nicht kommunizieren.
Jedes Jahr lade ich meine Offiziere zum Wichteln ein. Wir versammeln uns bei mir zuhause und machen uns zwischen den Jahren eine tolle Zeit. Aber er durfte nicht kommen. Besonders glücklich war er über meine persönliche „Ausladung“ nicht. Meine Bande wird demokratisch geführt – zumindest in der Theorie. Also musste ich mir nachträglich, über den einen oder anderen Umweg, noch die Einwilligung der anderen einholen. Es erforderte etwas Planung und eine strategische Umsetzung, aber am Ende waren sich alle einig, dass er mit einigen „Einschränkungen“ Offizier werden durfte.
Ich mag keine Lügen und habe auch in diesem Fall meine Offiziere nicht belogen, ich habe nur nicht explizit nachgefragt, von welchen Einschränkungen sie sprechen. Also wurde er auch offiziell ein Offizier, mit mehr Rechten als die anderen hatten, aber einen Hauch weniger Rechte als ich. Irgendwo musste ich ihn ja einschränken. Vereinbart, war immerhin vereinbart. Er übernahm einige Aufgaben, die bisher in meiner Verantwortung lagen. Für mich war es eine wundervolle Entlastung. Mit der Zeit und seinen wachsenden Aufgaben entwickelte er sich letztendlich zu meinem ersten Ritter, denn ich war nach wie vor die Königin in diesem Stall.
Die Zeit lief weiter und inzwischen beschränkten wir unseren Kontakt auf das Telefon. Keine abendlichen Standleitungen mehr und endlich wieder freie Nächte für freie Avatare. Es war definitiv besser so und wesentlich entspannter. Ich vermisste ihn.
Aus dem Winter wurde Frühling und mein 40ster Geburtstag stand an. Ich habe lange überlegt wie ich feiern möchte. Klein und exklusiv oder rustikaler und größer oder alleine mit meinem Mann, an einem schönen Fleckchen auf dieser Welt. Es wurde eine Mischung aus fast allem. Der Kreis der Gäste, die ich eingeladen habe war lange überlegt und ausgesucht. Für mich genau der richtige Weg für diesen Tag. Selbstverständlich und ohne Ausnahmen gehörten meine Offiziere dazu.
Die Planung war eine reine Katastrophe und es lief so vieles aus dem Ruder. Und während dieser Zeit war er es wieder gewesen, der meine Fahne hochgehalten hat. Wir chatteten und er hörte sich geduldig mein Jammern an. Und wie immer, hatte er auf alles die passende Antwort. Nicht immer wirklich konstruktiv, aber mit unglaublich viel Humor gespickt. Er holte mich aus jedem Loch heraus.
„Ich bekomme keinen Friseur Termin mehr.“ – „Ich kann das übernehmen. Ich habe einen Langhaarschneider.“
„Ich habe immer noch keinen DJ gefunden.“ – „Ich bringe mein Netbook mit und mache Musik für dich.“
„Ich schaffe es nicht mehr zum Waxing.“ – „Kein Problem, ich bringe Paketklebeband mit.“
Und immer begleitet mit einem: „Pearl, nur wer sich Stress macht, der hat Stress. Also entspann dich, wir bekommen das schon hin.“ Er war ein Drecksack, aber ein unglaublich liebeswerter und hilfsbereiter Drecksack, mit dem richtigen Händchen für den Moment.
Der Tag rückte näher und alles lag in den letzten Züge. Ich freute mich sehr darauf, meine alten Freunde wiederzusehen und eine rauschende Party zu feiern. Und natürlich freute ich mich darauf, meinen ersten Ritter endlich in die Arme nehmen zu können.
Mein Telefon klingelte und er erklärte mir, dass seine Oma gestorben ist und an dem Tag meiner Geburtstagsfeier, die Beerdigung stattfindet. Ich wusste um die Probleme, die seine Mutter derzeit mit der Familie hatte, und so verstand ich es natürlich, dass er zu dieser Beerdigung gehen musste. Letztendlich auch, um für seine Mutter da zu sein. Ich war sehr enttäuscht in dem Moment. Ich sprach ihm mein Beileid aus und es wurde still. Wie lange? Keine Ahnung, mir kam es sehr lange vor. Und dann sagte er: „Sei mir also nicht böse, wenn ich am Anfang nicht so gut drauf bin. Ich komme dann direkt von der Beerdigung. Ich wollte nur das du es weißt.“
Ich war unglaublich erleichtert. Ja, mein Fest würde genauso schön werden, auch ohne ihn, und ich hätte mich keinen Deut weniger darauf gefreut, aber was ist schon eine Königin auf einem Burgfest ohne ihren ersten Ritter.
Der Tag war gekommen. Wir hatten für diesen Abend ein kleines Hotel für uns ganz alleine, das direkt in meiner Straße lag. Gegen Abend wurde es zeit aufzubrechen. Die wenigen Meter zum Hotel hatten wir schnell überbrückt ich betrat als erste die Räume. Die ersten Gäste waren auch diejenigen, die dort übernachteten. Nach und nach kamen sie die Treppe herunter und es wurde lebhafter. Dann kam er die Treppe herunter und stand vor mir.
….
Was habe ich erwartet? Keine Ahnung? Ich hatte mir kein Bild von unserem Zusammentreffen gemacht, aber sicher hätte ich nicht DAS erwartet. Unsere Begrüßung lief so herzlich ab, als hätte ich gerade den Freund einer Kellnerin begrüßt, der heute zum Aushelfen hier ist. Seltsam.
Ich konzentrierte mich wieder auf die Begrüßung meiner neu eintreffenden Gäste. Als es etwas ruhiger wurde, sah ich ihn alleine am Rand mit seiner Freundin stehen. Ich ging zu ihnen, stellte mich zwischen sie und schob sie sachte zu den anderen Offizieren. Er war immer noch sehr verhalten. Seltsam.
Es blieb genauso, wie es angefangen hatte. Ich sah ihn einige Zeit später alleine an der Theke stehen und ging zu ihm. Ich machte ihm ein Kompliment zu seinem neuen schicken Zwirn. Er jedoch schenkte mir kaum Beachtung, weil er ein Handtuch für seine nassen Hände suchte. Ähm, okay.
Später saß er dann auf der Bank im Raucherbereich. Ich zwängte mich dazu und nach wenigen Sekunden war er mehr mit seiner Zigarette als mit mir beschäftigt. Ähm, okay.
Ich weiß gar nicht wie ich mich gefühlt habe – enttäuscht, erschreckt, schockiert? Wahrscheinlich alles auf einmal. Neben mir saß ein Mann, der sich genauso anhörte und aussah, wie mein erster Ritter. Aber das war auch schon alles.
Ich versuchte meine Enttäuschung zu überspielen.
Ich sprach mit meinen Gästen, lachte, hatte Spaß. Doch immer wenn mein Blick ihn streifte, dachte ich: „Okay, netter Spaß, jetzt haben wir alle herzlich gelacht. Ha ha ha! Und jetzt schickt den Idioten wieder auf das Zimmer hoch und mir den „Richtigen“ wieder runter.“ Ich verstand das alles nicht, hatten wir unsere Freundschaft so unterschiedlich interpretiert? Warum ist er so abweisend? Wenn ich nicht zufällig auf meiner Geburtstagsfeier gewesen wäre, dann hätte ich mich in die Ecke gesetzt und geschmollt. A*******h!
Irgendwann startete ich wieder einen Versuch – es nagte an mir. Er saß im Außenbereich und unterhielt sich mit einer Freundin von mir. Ich bin also direkt auf sie zugegangen. Ich stand gerade vor ihm und habe den Mund aufgemacht, als er mir seine Handfläche entgegen steckt und mir den Mund verbietet. Dann lässt er einen dummen pubertären Spruch los und ich mache direkt auf dem Absatz kehrt. Ohne ein einziges weiteres Wort. Ich hatte jetzt die Wahl, mich weiter darüber aufzuregen oder zu feiern. Ich entschied mich dafür den Kerl auszublenden und mich lieber auf die Gäste zu konzentrieren, die – welch‘ ein Wunder – auf meiner Geburtstagsfeier auch mit mir reden wollen. Riesen A*******h!
Ich holte mir einen Wein und der Abend konnte so richtig beginnen. Ich hatte meine gute Laune wieder gewonnen und stand an der Theke. Eine kleine Weile später erzählte mir eine gute Freundin, dass ihr Vater an diesem Tag ins Krankenhaus gekommen ist. Er hatte starke Schmerzen, aber die Ärzte konnten ihr noch keinen Befund nennen. Ich fragte, ob sie telefonisch Auskunft kriegen könnte, als sich die Freundin dieses riesen A********s in das Gespräch einklinkte.
Klick, klick.
In der freien Übersetzung an mein Gehirn bedeutet das klick, klick: „Gehirn an Julusch, Ober- und Unterkiefer fest zusammenbeißen. Gib nur keine Geräusche von Dir. Versuche die Mundwinkel nach oben zu ziehen und zu lächeln. Du darfst dabei NICHT winken. Entferne dich unauffällig bevor die Starre sich wieder auflöst. Und seit heute füge ich noch hinzu: „Gehirn an Julusch, nein – du wirst auch nichts darüber schreiben.“
Jedenfalls sagte die Freundin: „Das ist doch noch gar nichts, ich komme heute von einer Beerdigung.“
Ich sah sie an und mein Gehirn brüllte mir ein ganz lautes – klick, klick – entgegen. Und noch in den Schrei hinein dachte ich: „Beerdigung? Verdammt, die Beerdigung. Ich habe die Beerdigung vergessen.“ Ich schaute mich um und konnte ihn erst im nächsten Raum finden. Ich ging auf ihn zu, sagte nur – KOMM MIT – und ging davon. Am Ende des Raumes setzte ich mich auf eine Couch und wartete bis er sich neben mich setzte.
Es war mir total unangenehm, dass ich das vergessen hatte und startete zur Ablenkung erst mit einem anderen Thema, um dann nebenbei Fragen zu können, wie es denn auf der Beerdigung war und vor allem wie es ihm ging. Ich riesen A*******h.
Das erste was ich bemerkte war, dass er mich nicht ansah. Wir saßen auf der Couch, ich hatte mich ihm zugewendet und er starrte geradeaus. Ähm, okay. Diesmal ignorierte ich einfach sein Verhalten und begann zu sprechen.
Ich dachte, ich fange so zum Einstieg mit etwas nettem an. Also entschuldigte ich mich – mal wieder – für diesen klitzekleinen Fehltritt, den ich mir geleistet hatte. Also den einzigen, der langen Pearl-das-darfst-du-einem-Mann-nicht-sagen-Liste, bei dem ich zugegeben etwas zu weit gegangen bin. Welche Ausrede ich diesmal benutzte, dass weiß ich gar nicht mehr. Ich konnte sie mir alle irgendwann nicht mehr merken. Er starrte weiterhin geradeaus.
Und bevor ich es vergesse. So absurd der Gedanke ist, dass er das hier findet und liest: „Sorry Kätzchen, ich habe das wirklich, wirklich, wirklich nicht so gemeint. Ich habe dich doch lieb, du Knalltüte.“
Jedenfalls redete ich und redete und kam vom Stöckchen auf das Steinchen. Und da wir ja bereits beim Thema waren, erwähnte ich noch dieses oder jenes. Er reagierte. Er drehte nicht seinen Kopf zu mir, sondern bewegte nur seine Augen in meine Richtung und sagte: „Schau’n wir mal.“ Womit zumindest bewiesen war, dass er zuhörte und sprechen konnte. Das war ja schon mal ein Fortschritt.
Ich weiß das ich einfach weiter erzählte, während mein Hirn immer noch versuchte, diese Aussage in irgendeine Schublade zu pressen. „Schau’n wir mal?“ Das war nicht die richtige Antwort. Und ich hatte auch gar keine Frage gestellt. Verstanden hatte ich ihn trotzdem.
Es wurde Zeit über die Beerdigung zu sprechen und das taten wir auch. Und während er erzählte, konnte man regelrecht zusehen, wie er sich – sorry für die Wortwahl – den Stock aus dem A***h zog. Seine Stimme ging um zwei Nuancen nach oben und er wendete sich zu mir um.
Erst jetzt fing ich an zu begreifen, was hier passiert war und warum heute Abend alles so „falsch“ war. So unglaublich ich das fand, aber der Kerl war verunsichert. Und jetzt machte auch der Spruch von vorhin einen Sinn. Das war kein pubertäres Getue, das war nur ein absolut verkorkstes Kompliment gewesen.
Ich wartete auf den bösen Wolf und es kam das Rotkäppchen. Ich war ein bisschen geschockt, schon wieder.
Wir saßen da und redeten, über alles und doch nichts. Ich hörte ihn, sah ihn und doch war er nicht da. Vieles an diesem Abend war für mich so fremdartig an ihm und ich bekam einfach irgendwie die Kurve nicht mehr. Ich redete irgendeinen Müll, und ich meine wirklich Müll und tat eigentlich nichts anderes dabei, als irgendwie zu versuchen meinem Hirn zu erklären, dass dieser Mann neben mir – der selbe Mann ist – mit dem ich erst gestern telefoniert hatte. Es lag nicht nur an den fehlenden Seitenhieben und seiner Unsicherheit. Auch die Art wie er mit seiner Freundin umgegangen ist, spiegelte so gar nicht den Menschen wieder, den ich zu kennen glaubte.
Seine Freundin mag ja sein wie sie ist. Und natürlich hatten auch die beiden ihre Probleme in der Beziehung, aber wer hat die nicht. Aber was ich ihm immer sehr hoch anrechnete, war die Tatsache, dass er immer wie ein Bollwerk vor ihr Stand.
Sie kam zu uns herübergelaufen und blieb vor uns stehen. Er fragte sie, was sie möchte. Sie schweigt. Stille. Einige Sekunden später fragte sie nach den Zigaretten. Er zeigte in eine bestimmte Richtung und schickte sie weg. Sie bleibt stehen und schweigt. Einige Sekunden, dann dreht sie sich um und geht langsam davon. Befremdlich. Er erzählt mir von ihrem Versuch, ihn dazu zu bringen, nicht zu meinem Geburtstag zu fahren. Seine Reaktion darauf – befremdlich. Auch die Wahl ihrer heutigen Garderobe und sein Weg ihr diese zu diktieren – befremdlich.
Das alles warf ein Licht auf ihn, dass ich vorher nie gesehen hatte. Es fiel mir immer schwerer diese beiden Menschen – denjenigen den ich zu kennen glaubte und den, der vor mir saß, in einen harmonischen Einklang zu bringen. Ich schaffte es nicht und habe irgendwann aufgegeben.
Der Abend ging weiter und es wurde ein schönes Fest. Ich hatte enorm viel Spaß und wir schlugen sicher auch das eine oder andere mal über die Strenge. Der Alkohol floss in rauen Mengen und zu Bier und Wein gesellte sich irgendwann auch der Tequilla. Es wurde gelacht, geknutscht, sich verlobt, sich entlobt, geblutet, gewettet, und getanzt. Auch mit der Situation hatte ich meinen Frieden geschlossen.
Es war bereits 5 Uhr morgens und die Bedienungen wollen endlich Feierabend machen. Ich war noch total aufgekratzt und habe beschlossen, dass wir bei uns Zuhause weiterfeiern. Als kleine Gruppe gingen wir die wenigen Meter zu uns nach Hause. Nachdem alle mit Getränken versorgt waren, machten wir es uns im Wohnzimmer gemütlich. Ich war betrunken. Kann man nicht anders sagen. Ich habe keine Ahnung, wie lange sie noch blieben. Mein Raum und Zeit Kontinuum war komplett aus den Fugen geraten. In den frühen Morgenstunden ging auch bei mir endlich das Licht aus.
Gegen 10 Uhr am nächsten Morgen weckt mich mein Mann. Er teilte mir mit, dass meine Gäste da wären. Gäste? Was für Gäste?
Gut, sie sind 100te von Kilometern gefahren, um mit mir diesen Tag zu verbringen. Natürlich wollten sie sich vor der Abfahrt noch von mir verabschieden. Da standen sie nun, meine ganzen Offiziere und freuten sich diebisch, als ich total mürrisch und noch betrunken in die Küche geschlürft kam. So lieb ich diese Bande habe, so sehr hasse ich MORGENS. Vor allem nach gefühlten drei Stunden Schlaf und einem Schädel, der Elefanten neidisch machen würde. Und das wussten sie.
Meine Fähigkeit zu denken stellte sich erst ganz langsam wieder ein. Wirklich sehr langsam, denn es dauerte ein ganzes Weilchen, bis ich bemerkte, dass in der Runde einer fehlte. Nach einigem hin und her stand er am Ende mit seiner Freundin auch bei uns vor der Tür. Ich sah ihn an und merkte das irgendwas nicht stimmte. Habt ihr mal versucht mit gefühlten 23,7 Promille, so verkatert, dass der Kater sogar einen Kater hat, zu denken? Auch heute weiß ich noch, wie unendlich langsam der Aufbau der Bilder stattgefunden hat. Bild für Bild und quälend ernüchternd, während ich durch den Schleier in meinem Gehirn langsam begriff, dass er gestern mein allerletzter Gast gewesen ist.
„Oh nein, das glaube ich jetzt nicht. Verdammt.“
Ich war kaum noch in der Lage ihn anzusehen und jeder Wortwechsel fiel mir schwer, während ich versuchte so normal wie möglich zu wirken. Am Nachmittag brachen auch die beiden in Richtung Heimat auf und ich war mit meinem Kopf wieder alleine. Ich haben den ganzen verbleibenden Sonntag genutzt, um das Chaos in meinem Hirn noch chaotischer zu machen.
Der Montag kam und ich wusste, dass ich mit ihm reden muss. Ich hatte mir noch keinen Plan und keine passenden Worte zurechtgelegt, als er sich meldete. Seine Stimme war glockenhell und seine gute Laune war deutlich herauszuhören. Und dann habe ich losgelegt ….. Unmengen an Vorwürfen bekam er von mir an den Kopf geworfen. Meine ganze Ratlosigkeit, Verwirrtheit und mein Schmerz bahnte sich ungefiltert den Weg aus meinem Mund. Aus meinem ersten Ritter war ein schäbiger Lanzelot geworden und das habe ich ihm auch mehr als deutlich gesagt.
Seine Stimme wurde zu einem tiefen Flüstern, während er irgendwas von sexuellen Spannungen erzählte. Und dann brach es aus ihm heraus. Es kam mir vor, als hätte jemand eine Maske von seinem Gesicht gerissen.
„Du hast mich dazu gezwungen.“
„Wie bitte?“
„Du hast mich gezwungen mit zu gehen.“
„Was?“
„Ich wollte das nicht.“
„Moment, ich habe dich gezwungen mit zu mir zu kommen?“
„Ja.“
„Ich habe dich gezwungen mit zu kommen? Und ich habe dich gezwungen, nicht mit den anderen wieder zu verschwinden? Und wie soll ich das bitte gemacht haben? Mit Waffengewalt?“
Diese Diskussion dauerte ein Weilchen an und der Kernpunkt am Ende war: Weil er in meinen Augen gesehen hat das ich „Rute eines Hundes – Lied von Bingo Bongo“ bin, habe ich ihn sozusagen gezwungen … sagen wir, dem auch etwas entgegen zu kommen. Und wenn ich nicht so „Rute eines Hundes – Lied von Bingo Bongo“ wäre, dann wäre das alles auch nicht passiert. Die Erwähnung, dass ich ihm bereits am Abend sagte, dass wir nicht miteinander schlafen werden, und ihn auch durchaus schon auffordern musste seine Hand von meinem Körper zu nehmen, ging wohl auf dem Weg von meinem Mund über meine „Rute eines Hundes – Lied von Bingo Bongo“ Augen verloren. Das er mich so nannte und das alles drum herum tat mir unglaublich weh.
Hier soll nicht der falsche Eindruck von ihm entstehen. Schalten wir mal wieder auf Retroperspektive, dann wäre es vielleicht durchaus ein „normaler Prozess“ gewesen. Nach all den vielen Stunden die das Thema uns verbal begleitete, irgendwann dem auch Taten folgen zu lassen. Theoretisch.
Deswegen haben wir relativ schnell Grenzen gesetzt. Wie ich oben schon geschrieben habe, wussten wir beide wo wir hingehören und das inklusive aller körperlichem Aktivitäten. Er war auch definitiv in diesem Punkt der Antreiber gewesen. Es hat uns jedoch nicht davon abgehalten, in so manchen Nächten gerne über den Austausch von Körperflüssigkeiten zu sprechen und alles was so mehr oder weniger damit zu tun hat. Wohl auch genau wegen der Sicherheit unserer Stellung zueinander und somit der Freiheit, die damit einherging.
Bin ich zu naiv gewesen? Nein, definitiv nicht. Er meinte es mit unserem Arrangement und den gesetzten Grenzen durchaus ernst, und das behaupte ich jetzt voller Überzeugung. Ich war, zumindest in meinem Kopf, etwas wankelmütiger und erlaubte mir das eine oder andere Hirngespinst. Immerhin wusste ich, wie er ohne seine Kleidung aussieht und das war alles andere als hilfreich. Er hatte sich hingegen von mir ein falsches Bild gemacht, und das flog ihm an diesem Abend um die Ohren.
Anyway! An meinem Geburtstag war ich jedoch ganz weit entfernt von jeglichen Hirngespinsten.
Ganz ehrlich, wenn ein paar Tage ins Land gegangen wären, dann hätte ich mich wieder beruhigt. Ich habe durchaus schon viel schlimmeres erlebt, als den visuellen Eindrücken von meinem ersten Ritter noch haptische hinzuzufügen. Irgendwann in der kommenden Zeit machte er den Vorschlag es einfach als „Gute Nacht Kuss“ zu deklarieren. So viel mehr war es auch nicht gewesen. Damit hätte ich gut leben können.
Womit ich aber gar nicht leben konnte, war der Ausbruch, den er an diesem verfluchten Montag, am Telefon bekommen hat. Jetzt ist der Moment gekommen, dass man mich als naive und törichte Frau bezeichnen kann. Ich hörte, wie er mich an den Pranger stellt und beleidigt, ich hörte ihn sprechen, wir diskutierten und ich merkte regelrecht, wie mir Stück für Stück das Atmen schwerer fällt. Mein Solarplexus probte einen Aufstand und ich rang mit den Tränen. Mein Herz raste unglaublich schnell und obwohl ich sprach, konnte ich mich keinen Millimeter bewegen. Ich war komplett erstarrt.
Nennt mich blöd, aber ich hätte niemals, gar niemals und nicht geglaubt, dass ausgerechnet mein Kätzchen mich absichtlich dermaßen verletzen würde. Ich hörte seine Worte und dachte nur: „Das kann nicht sein, das ist nicht möglich, das würde er niemals tun, nicht er. ER WÜRDE MIR DAS NIEMALS ANTUN. NIEMALS!“ Aber er tat es. Auch wenn sich das jetzt theatralisch und dumm anhört, aber ich habe wirklich gemerkt, dass in mir etwas ganz laut und schnäppernd zerbrach. Ich versuchte von dem Thema weg zu kommen. Ich wollte um keinen Preis der Welt jetzt in Tränen ausbrechen. Nicht ICH und erst recht nicht vor IHM. Eine gefühlte Ewigkeit später legen wir endlich auf und dann gab es kein Halten mehr.
Ich versuchte mich den ganzen Tag über auf meine Arbeit zu konzentrieren, aber ich fühlte mich wie in Watte gepackt. Jeder Atemzug kostete mich sehr viel Kraft. Es folgte eine grausige Nacht – habe ich überhaupt geschlafen? Keine Ahnung. Ich wollte nur raus aus dieser Enttäuschung und den Schmerz endlich in einer Schublade packen.
Wenn ich etwas gar nicht mag, dann sind es „Hätte-Sätze“. Hätte ich nur dies oder das … oder hätte ich hier besser so oder so …. ES BRINGT NICHTS. Hätte, hätte Fahrradkette. Ich kann Sachen die geschehen sind nicht ändern, und daher ist es müßig sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Unnötige Energieverschwendung. Genauso halte ich es mit „Wenn dann Sätzen“. Ich werde sehen was passiert, wenn es soweit ist. Ich kann nicht in die Zukunft sehen und daher brauche ich mich darüber auch nicht verrückt zu machen. Energieverschwendung.
Aber ein einziges Mal mache ich eine Ausnahme. Wenn ich heute zurückdenke und mir vorstelle, dass die Situation umgekehrt gewesen wäre … wenn die Initiative zu diesem „Gute Nacht Kuss“ von mir ausgegangen wäre … ich wäre unglaublich gekränkt und verletzt gewesen, wenn er mir das alles vorgeworfen hätte, was ich ihm alles an diesem Montagmorgen an den Kopf geknallt habe. Hätte ich es nur nicht so hart formuliert. Ich wusste doch verdammt nochmal, wie er reagiert, wenn die Kerbe zu tief wird. Oder noch viel besser: Hätte ich nur einfach meine blöde Klappe gehalten. Ich hätte mich verkriechen sollen, dort hätte ich in Ruhe meine Wunden lecken können, und dann wäre ich mit einem „ich war betrunken und ich weiß von nichts“ einfach wiedergekommen.
Hätte, hätte Fahrradkette. Ich war verletzt. Ich fühlte mich benutzt. Ich war gemein und überfordert.
Ganze 24 Stunden habe ich diesen Zustand ertragen können. Direkt am Dienstagvormittag griff ich zum Hörer und rief ihn an. Ich teilte ihm kurz und knapp mit, dass ich keine Lust habe mich über unnötige Kleinigkeiten aufzuregen, und das der Abschluss des Abends perfekt war. So wie er war. Punkt! Mein Gott, die Stimmwissenschaftler wären fasziniert von ihm. Schlagartig hatte er sein „Lachen“ in der Stimme wieder und ich war beruhigt. Wir redeten und knüpften dort an, wo wir vor meinem Geburtstag aufgehört hatten. Fast.
Im Spiel frotzelte er mich wieder regelmäßig an. Versuchte mich aus der Reserve zu locken, während er sich dreckig grinsend auf den Gegenschlag vorbereitetet. Er war wieder genau wie früher, es war kein verunsicherte Junge mehr zu sehen, kein verletztes und beißendes Rotkäppchen und erst recht kein beleidigendes Monster. Alles wieder normal, alles wieder gut.
Nur ich war nicht mehr gut.
Eines Abend gelang ihm wirklich ein Paradeschlag – volle Kanone auf die Zwölf – er hatte mich wirklich voll erwischt. Er hatte meisterlich gespielt und das Schauspiel perfekt hochgeschaukelt. Chapeau! Das war ganz großes Kino. Während des Ablaufes reagierte ich theoretisch wie immer. Ich war mir nicht sicher, ob er mich veräppelt oder nicht. Er spielte wirklich meisterlich. Ich sitze und warte – beobachte ihn – verfolge seine Schritte – bin angespannt und achte auf ein noch so kleines Zeichen, das ihn verraten würde. Wenn es gut lief und er zuschlagen konnte, ohne dass ich ihn vorher durchschaut hatte, dann stellte sich bei mir immer ein „Na-warte-Bursche-das-bekommst-du-zurück“ Gefühl ein. Und es ging ans Pläne schmieden für den nächsten Gegenschlag.
Normalerweise. Doch heute wurde ich nur von Minute zu Minute wütender. Richtig wütend. Während er seine Show abzog, konnte ich nicht fassen was er dort machte. Ich fing an zu weinen – vor Wut – während ich meinen Monitor anschrie. Die Show war vorbei und er schloss die Vorstellung. In dem Moment öffnete sich mein Chatfenster.
„Du hast doch nicht wirklich geglaubt das ich das machen würde?“
„Doch, habe ich.“
„Ich weiß doch wieviel es dir bedeutet. Das würde ich dir doch niemals antun.“
Das war zu viel für mich. Einfach viel zu viel. Dieser letzter Satz war zu viel. Was wusste ich denn schon? Das wir Freunde sind? Dass ich mich auf ihn verlassen konnte? Dass er immer für mich da war? Dass er mich niemals mit Absicht verletzen würde? Ach echt? Meinst du?
Ja, das glaubte ich wirklich – einmal. Irgendetwas hatte ich an diesem Montagmorgen verloren. Ich konnte nicht mehr über seine Witze lachen. Sein ganzes Gebaren, das ich doch so sehr mochte, nervte nur noch. Es machte mich nur noch wütend. Und es machte mich wütend, dass es mich wütend machte. Ich konnte dieses Gefühlt nicht abstellen.
Er war nun mal mein Offizier, mein erster Ritter. Mein schäbiger Lanzelot. Es konnte einfach nicht so bleiben, wir würden uns noch öfters gegenüber stehen und ich wollte nicht auch im „wahren Leben“ so gereizt und wütend reagieren. Ich rief ihn an und bat um ein Treffen zum Mittagessen. Er willigte sofort ein und wir kamen ins Gespräch. Ich war ehrlich und sagte ihm, wie es mir geht. Ich erzählte ihm von meiner Wut und das ich mit seinem ganzen Gebaren nicht mehr klarkomme. Ich wollte das ein für alle mal aus der Welt schaffen. Ich wollte endlich wieder mit ihm lachen können. Und dafür brauchte das Mittagessen, denn ich brauchte das Rotkäppchen.
Am Ende des Telefonats machte ich ihm einen Terminvorschlag – den er ablehnte. Dann machte ich ihm noch einen Terminvorschlag – den er auch ablehnte. Nun bat ich ihn, mir einen Termin zu nennen. Es war ihm extrem unangenehm – und ja – man hörte ihm deutlich den Stress in seine Stimme an. So ging es noch ein Weilchen hin und her. Am Ende hatte ich ihn soweit in die Ecke gedrängt, dass er etwas sagen musste und das tat er dann auch. Er teilte mir mit, dass er mir erst in vier Wochen sagen könnte, wann er Zeit hat. Alles klar – das war eine deutliche Ansage! Ich muss hier wohl nicht erst erklären, dass ich in diesem Moment wusste, dass es niemals ein gemeinsames Mittagessen geben wird.
Die Tage plätscherten dahin, während ich gelegentlich leichte masochistische Tendenzen enzwickelte. So rief ich ihn eines Vormittages an. Wir telefonierten, redet über dies und das und ich beobachtete die Uhr. Das eine Stündchen war vorbei und das andere auch. Und pünktlich gegen 14 Uhr wurde er unruhig. Er wollte gerne auflegen, er wollte zum Sport. Wie jeden Tag um 14 Uhr. Doch diesmal beendete ich das Gespräch nicht, sondern erzählte und erzählte und erzählte. Was gar nicht so einfach war, denn ich hatte seit weit als einer Stunde schon keine Ahnung mehr, womit ich das Gespräch noch weiter laufen lassen konnte. Nach weiteren 20 Minuten verabschiedete er sich und legte auf. Warum habe ich das gemacht? Ganz einfach – dieser Tag war mein erster Terminvorschlag für das Mittagessen gewesen. Ob ich es irgendwann benutze, um es ihm unter die Nase zu reiben, war noch nicht entschieden. Entscheidend war nur, das er durchaus drei Stunden an diesem Tag mit mir telefonieren konnte, aber keine Stunde für ein Mittagessen hatte.
So vergingen die Wochen. Irgendwann um die Zeit herum, als ich dachte das die vier Wochen vorbei sind, fragte ich ihn bei einem Telefonat, ob er mir schon einen Termin nennen kann. Er teilte mir mit, dass er mir am kommenden Freitag einen festen Termin nennen könnte. Ich war gespannt, mit welcher Ausrede er diesmal um die Ecke kommen würde. Ich nehme es schon mal vorweg. Mit gar keiner! Es wurde Donnerstag und am Abend spielten wir noch zusammen World of Warcraft. Es wurde Freitag und er meldete sich nicht. Das war das allererste mal, dass er nicht zu seinem Wort stand. Das war so gar nicht seine Art. Ich rief ich ihn an und er ging nicht ans Telefon, ich schickte ihm eine Nachricht und er antwortete nicht, er kam auch nie wieder zurück ins Spiel. Ich war zu stolz, um es auch ein drittes Mal zu versuchen. Warum auch? Ich hatte es auch so verstanden.
Man kann viel über ihn sagen, aber das er noch nicht einmal das Rückgrat hatte, mir zu sagen, dass unsere Freundschaft beendet ist, dass haute mich um. Es dauerte einige Zeit bis ich wirklich realisierte, dass er wegen Feigheit vor dem Feind desertiert ist, und das bei einem ehemaligen Soldaten. Der Schmerz war nicht so allumfassend wie an diesem verheerenden Montag. Der Prozess kam schleichend und daher wohl auch viel nachhaltiger. Es ging mir einfach jeden Tag ein kleines bisschen schlechter. Und noch ein bisschen und noch ein bisschen. Irgendwann war ich sogar nicht mehr in der Lage in das Spiel zu gehen, ich habe es einfach nicht mehr ertragen. Ich habe meine ganze Bande zurück gelassen. Mir fehlte einfach die Kraft dazu. Irgendwann hatte ich endgültig begriffen, dass er sich nie wieder melden wird. Ich kickte ihn aus Facebook, ich kickte ihn aus der Gilde und alles was mich an ihn erinnerte aus meinem Leben.
Aber ich hatte nicht viel Zeit, um damit klar zu kommen oder zu trauern, denn er hatte mit seinem traurigen Abgang einen Schnellball losgetreten. Ich wurde sehr krank, meine Schwester erkrankte an Krebs, ich verlor meinen Job, meine zweite Schwester starb wegen einem Ärzte Fehler, ich hatte einen schweren Unfall, und mit einigen folgen habe ich bis heute zu kämpfen. Und die kleinen Katastrophen dazwischen, lasse ich hier einfach mal unter den Tisch fallen.
Zu der Zeit, als ich meinen Job verloren habe, schickte ich ihm eine Nachricht. Meine Freunde und auch meine Familie malten meine Zukunft in den dunkelsten Farben aus, nicht aus Gehässigkeit, sondern um mich „realistisch“ auf das Leben vorzubereiten, wie sie meinten. Es war nicht wirklich hilfreich. Zu der Zeit stolperte ich über ein Comic im Internet und musste an ihn denken. Ich nahm es einfach und schickte es ihm per Mail zu.
S****ß auf meinen ganzen Stolz. Ich wollte einfach nur mit ihm sprechen. Keine mitfühlenden Worte und Blicke mehr ernten. Für ein paar Minuten einfach den Kopf in den Sand stecken.
Klar, dass er nicht reagierte. Warum auch?
Es vergingen weitere Monate, als sich eines Nachts seine Freundin bei mir meldete. Ich saß gerade mit meinem Mann auf der Couch, als ihre Nachricht eintraf: „Mein Mann hat dich auf den Mund geküsst, stimmt’s?“
Will die mich v*********n? Nein, er hat mich nicht auf den Mund geküsst. Damit hat er sich nicht aufgehalten. Er hat mir direkt und ungefragt seine Zunge in den Hals geschoben. Ich war richtig angefressen. Unfassbar das er ihr davon erzählt hat, denn es war klar, dass sie bei mir aufschlägt sobald er etwas sagt. Wer weiß, was die sonst noch alles anstellt. Und ich hingegen hatte in dieser Nacht, noch eine lange Diskussion mit meinem Mann.
Ich konnte und wollte es nicht so im Raum stehen lassen. Ich schrieb ihr eine Antwort, und dann noch eine, und dann noch eine. Alle wurden wieder gelöscht.
Ich gab auf und rief ihn an. Na, kommt ihr drauf? Richtig, er nahm nicht ab. Also hinterließ ich ihm eine Nachricht auf dem Mailbox, er möchte mich bitte zurückrufen. Das erste Mal überhaupt. Hat er es getan? Nein, warum auch? Ich hingegen hatte gerade gar keine Lust auf dieses Verhalten. Ich schrieb ihm am nächsten Morgen eine Nachricht, dass meine Nachricht auf der Mailbox ernst gemeint war und er mich anrufen soll. Ich schickte sie ab, legte mein Telefon auf den Kamin, welches eine Sekunde später klingelte. Ich schaute etwas getröpfelt aus der Wäsche, während mein Telefon neben mir die Melodie von Insomnia spielte. Schon klar, wenn man jemand auffordert einen anzurufen, dann kann man in der Regel oder gelegentlich oder irgendwann mal damit rechnen, dass er es auch tut. Ich hatte es offensichtlich nicht wirklich getan, denn ich ging nicht ans Telefon. Ich war komplett überfordert.
Ich beschloss, dass es für mich leichter wäre, eine hysterischer Frau in ihre Schranken zu weisen, als mit ihm zu sprechen. Ich war durch die letzten Monate extrem gezeichnet worden und mir fehlte die Kraft und der Wille für eine Auseinandersetzung mit ihm. Also tat ich das einzige, was mir übrig blieb.
Ich kanalisierte meine Überforderung in den einzig vernünftigen Kanal – Ärger. Ich rief also meine Freundin an, um mich lauthals darüber zu beschweren, dass die Pappnase doch tatsächlich die Frechheit besitzt, bei mir anzurufen. Das ist wirklich das alle Letzte. Sie seufzte nur tief und forderte mich auf, ihn augenblicklich zurück zu rufen.
„NEIN!“
„Julusch, ruf da an und stelle deine Frage.“
„NEIN! Ich will da nicht anrufen.“
„Du fragst ihn was er ihr erzählt hat, passt deine Geschichte seiner an, antwortest ihr und vergisst das alles wieder. Du willst ihr doch keine weiteren Flanken öffnen.“
„NEIN, ich will da nicht anrufen.“
„Mach dir doch nicht noch eine Baustelle auf. Ruf da an.“
„VERDAMMT! Na gut. Aber nur unter Protest.“
Kindergarten, schon klar! Aber ich war überfordert und äh … verärgert.
Ich wählte und es klingelte. Es klingelte einmal, zweimal, dreimal, viermal … ich atmete aus. Dann hörte ich ihn sagen: „Warte kurz, ich muss mir nur eine ruhige Ecke suchen. Du hast mich gerade aus der Vorlesung geklingelt. So jetzt, was ist los?“ Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, dann krächzte ich mehr als das ich sprach und erzählte ihm was passiert war. Wollt ihr seine Antwort wissen? Er sagte es mir sogar. Er hat ihr nichts erzählt. Dann berichtete er, vor welchen Herausforderungen diese Beziehung gerade steht. Die Details sind hier irrelevant und gehören auch nicht hier her, bis auf einen einzigen Ausschnitt aus einem Satz.
Kennt ihr das Gefühl, wenn ihr merkt das euer Gegenüber euch für dumm hält – nicht in der Lage, über den eigenen Horizont zu schauen? Genauso fühlte ich mich plötzlich. Dieser Ausschnitt war: „… grundlos eifersüchtig und wenn sie sich nicht sehr bald wieder fängt, dann nehme ich mein Köfferchen und gehe woanders hin.“ Soweit so gut, sie war also ein bisschen am Abdrehen und er bekam sie nicht eingefangen. Und jetzt aufgepasst. Keine fünf Sätze später meint er auf einmal aus dem Zusammenhang gerissen: „… ach, dann sag es ihr halt, kannst ja sagen, dass es nur ein Gute Nacht Kuss war.“ Ich war etwas mehr als verwundert.
Logisch, während er den großen Zampano macht, dass sie ihn grundlos beschuldigt, komme ich um die Ecke mit einem „Gute Nacht Kuss“. Keine Ahnung wohin er sein Köfferchen so dringend tragen wollte, aber ich wolle nicht involviert werden. Ich wusste doch, dass es keine gute Idee war mit ihm zu reden. Das kommt davon, wenn man zu wenig über „wenn dann“ Szenarien nachdenkt. Aber auf der anderen Seite war es auch sehr gut so, denn ich habe wieder gesehen, dass er nicht annähernd das ist, für was ich ihn einmal gehalten habe. Ich beendete das Gespräch. Wohl unnötig zu erwähnen, dass es wie Musik war, seine Stimme zu hören.
Ich schrieb ihr nach unserem Gespräch eine lange Nachricht, in der ich mich furchtbar und unglaublich darüber aufregte, dass er solche Behauptungen in den Raum stellt. Bla, bla, bla …! Ich lüge nicht gerne und ich kann es auch nicht besonders gut. Das habe ich auch nicht getan, den ich kann definitiv behaupten, dass er mich NICHT auf den Mund geküsst hat. Mein Text war fertig und ganz zum Ende fügte ich doch noch eine einzige gelogene Kleinigkeit hinzu. Nur so zur Sicherheit: „In all der Zeit war alles körperliche nie ein Thema zwischen ihm und mir. Weder verbal noch bei unserem Treffen an meinem Geburtstag.“
Ich hatte kein gutes Gefühl dabei und darum habe ich versucht, es mir ein wenig leichter zu machen. Denn unter den ganzen Text schrieb ich das Zitat von George Orwell: „In Zeiten da Täuschung und Lüge allgegenwärtig sind, ist das Aussprechen der Wahrheit ein revolutionärer Akt.“
Ein tolles Zitat, aber was soll ich machen? Ich bin einfach kein guter kein Revoluzzer, daher sei es mir bitte verziehen das ich lügen musste. Ich schickte ihm eine Kopie davon und damit war für mich die Geschichte erledigt.
Mir ging es wirklich gar nicht gut. Zu den ganzen seelischen Herausforderungen gesellten sich auch noch weitere körperliche Leiden. Ich habe etwa 300 Spritzen in meinen Rücken bekommen, war 12 Wochen in der Krankengymnastik und konnte meine Hände trotzdem kaum bewegen. Die Schmerzen waren allgegenwärtig und unerträglich. Schlaf? Was war das? Ich konnte fast nichts mehr. Noch nicht einmal den Telefonhörer halten.
Nach diesem monatelangen Krankheitsprozess war ich bei einer Neurologin, die meine Nerven untersucht hat. Sie stellte auch endlich die richtige Diagnose. Nach 14 Tagen waren die Schmerzen durch die richtige Behandlung endlich verschwunden. Unfassbar nach all den Monaten. Wir kamen ins Gespräch und sie forderte mich dringend auf, die „Baustellen“ in meinem Leben zu schließen. Ich fand alles was sie sagte durchaus angebracht. Zuhause schrieb ich meine „Baustellen“ auf. Die ganz großen, die mittleren und die kleinen Baustellen, schön sortiert nach beeinflussbar oder nicht und mit den jeweiligen Optionen dahinter, um den Bauvorgang abzuschließen.
Schon klar, dass er auf der Liste wieder auftauchte, oder? Ich machte mich an die Arbeit, soweit ich das konnte, um mir Stück für Stück mein Leben wieder zurück zu holen. Meine Freundin war nicht begeistert, dass ich mit ihm sprechen wollte. Und ich versprach ihr, wenigstens einmal ehrlich zu ihm zu sein. Ich habe immer sehr darauf geachtet, dass er nicht viel von MIR sieht. Wozu auch? Der größte Teil meines ICH, hätte nicht wirklich zu unserem Spiel gepasst. Ich war lieber laut, unangepasst, frech, fordernd und betrunken. Es gab keinen Raum für Entschuldigungen, Zuwendungen und Dankbarkeit. Natürlich spielte ich keine Show, der Teil den ich ihm zeigte, ist auch ein Teil von mir, auch wenn es nur ein ganz kleiner ist.
An mein Versprechen habe ich mich gehalten. Ich schrieb ihm eine E-Mail – ganz offen und seelisch wenig bekleidet – ich wollte endlich mit ihm sprechen. Es gibt doch dieses bescheidene Sprichwort: „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.“ Er hatte mich durch seine Ignoranz und Gleichgültigkeit zu zweiterem verurteilt. Ja, ich war ein Volltrottel, denn ich vermisste ihn noch immer. Leider. Zumindest das Wölfchen in ihm vermisste ich sehr.
Dann nahm ich mein Telefon und bat ihn, in einer Nachricht, auf diese Mail zu antworten. Ein einfaches „Ja“ oder „Nein“ ob wir telefonieren können würde mir genügen. Keine Ignoranz mehr bitte, ich hatte keine Kraft mehr zu warten. Am späten Abend bekam ich meine Antwort. Klar, können wir sprechen, er ist am nächsten Tag ab 16 Uhr zuhause und meldet sich dann.
Besonders toll fand ich das nicht. Morgen schon? Ach nein – nicht schon morgen. Ich wollte dieses mal nicht blind in das Gespräch laufen. Und klar könnte ich mich bis morgen vorbereiten. Wollte ich aber nicht. Das ging mir alles ein wenig zu schnell. Letztendlich schob ich es um drei Tage. Ich setzte mich auf meinen Hintern und überlegte, was ich eigentlich „loswerden“ wollte. Die Liste war schnell geschrieben und die drei wichtigsten Punkte bekamen eine Gewichtung und Reihenfolge. Mehr sollten es nicht werden. Ich wollte das Gespräch nicht zu lange halten und mich am Ende noch verfranzen.
Der Tag der Tage kam und er schickte mir bereits am Vormittag eine Nachricht, dass er zuhause ist. Ich wollte nicht. Ich fand die ganze Idee plötzlich ganz doof. Natürlich nagte es an mir, jeden einzelnen Tag. Es war auch endlich höchste Zeit, dass alles hinter mir zu lassen, aber ich hatte auf einmal Angst vor meiner eigenen Courage und vor allem wollte ich ihn nicht hören. Ich wollte seine Stimme nicht hören.
40 Minuten später schickte er ein Fragezeichen hinterher. So langsam wurde es wohl Zeit anzurufen. Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen, wählen, auflegen. Eine Zigarette vorher kann ja nicht schaden. Also noch eine. Musste ich dieses Gespräch wirklich führen? Ich hatte eigentlich keine Fragen an ihn. Ich wusste ja, warum er verschwunden war. Ist es mir wirklich so wichtig meinen Sermon noch loszuwerden? Musste das wirklich in einem Gespräch sein? Reicht nicht doch eine E-Mail? Lieber noch eine Zigarette rauchen.
Es belastete mich und es belästigte mich und eigentlich konnte ich immer noch nicht fassen, dass er das wirklich getan hat. Das er mich ohne ein Wort einfach so abserviert hat, gestrichen, entsorgt, weggeworfen wie ein Stück Dreck. Ignoranz ist für mich die perfideste Form der Bestrafung. Ich bin niemand der verbissen an etwas festhält, wenn mir gezeigt wird, dass es wirklich keinen Sinn hat. Es ist wirklich so. Hätte er mir nur diesen klitzekleinen Hauch von Respekt entgegengebracht und mir in einem einzigen Satz mitgeteilt, dass unsere Freundschaft beendet ist, dann hätte ich noch gefragt warum und das wäre es gewesen.
Aber so verharrte ich über Tage, Wochen und Monate in einer absoluten Fassungslosigkeit.
Fassungslos darüber, dass ich ihm noch nicht mal eine einzige Zeile des Abschiedes wert war.
Fassungslos darüber, dass er mich wie ein Stück Dreck weggeworfen hat.
Fassungslos darüber, wie gleichgütig ich ihm war.
Fassungslos darüber, dass ich mich so in ihm getäuscht habe.
Fassungslos darüber, wie unglaublich weh mir das tat.
Fassungslos darüber, wie eine alte Frau noch so dumm sein kann.
Hätte, hätte Fahrradkette. Wenn der anschließende Schneeball nicht so groß geworden wäre, vielleicht würde ich dann hier nicht sitzen und diese Worte schreiben. Sinnfrei darüber nachzudenken. Worüber ich jedoch sehr viel nachgedacht hatte, war das „Warum“?
Warum machte es mir so viel aus? Ich bin mehr als einmal in meinem Leben enttäuscht worden und habe mich in vielen Menschen geirrt. Warum also machte es mir gerade jetzt so viel aus? Was ist der Unterschied zwischen ihm und allen anderen? Was hat er mir gegeben, was die anderen nicht hatten? Er kam als Lebensabschnittgefährte nie in Betracht – ganz egal wie er ohne seine Kleidung aussieht. Trotzdem fühlte es sich so an, als hätte er mir bei lebendigem Leib mein Herz herausgerissen.
Ich habe sehr lange und sehr viel darüber nachgedacht und erst als ich meinen Job verloren hatte und unbedingt mit ihm reden wollte, wusste ich es genau. Mein Umfeld hat es mir sehr schwer gemacht und ich fühlte mich so einsam und verletzlich, als wäre ich wieder das kleine geprügelte Kind. Ich war psychisch und physisch vollkommen am Ende.
Dann wusste ich es – Geborgenheit – das hat er mir gegeben. Und davon eine verdammt große Menge. Was auch immer ich hatte, wenn er sagte, dass alles gut wird und wir das schon hinbekommen, dann glaubte ich das, und mir ging es gleich viel besser. Ich habe mich immer an ihn angelehnt und daraus Kraft geschöpft.
Ich wählte unter innerem Protest, dann doch irgendwann seine Nummer. Ich musste diesen unterschwelligen Alptraum endlich beenden. Es war wie erwartet. Er sprach die ersten zwei Sätze und ich fühlte mich, als wäre ich heim gekommen. Jetzt wird endlich alles wieder gut. Ich hatte Tränen in den Augen und hätte mich am liebsten dafür geohrfeigt. Ich fokussierte mich auf den ersten Teil der Liste. Während ich ihm erklärte wie sehr er mich verletzt hat, ließ er in einem Nebensatz fallen, dass es für uns ja kein „full stop“ sein muss. Ich registrierte es, aber beschloss es zu ignorieren. Ich ging weiter zum nächsten Punkt und dann zum letzten, als er es nochmal wiederholte.
Wenn man dir die Hoffnung nimmt, dann nimmt man dir die Seele. Aber Hoffnung ist ein verdammt trügerischer Geselle. Ich wollte nicht mehr hoffen, ich wollte nur das der Schmerz aufhört.
Ich war am Ende meiner Liste angelangt und versuchte mich nun – so schnell ich es nur konnte – zu verabschieden. Das ganze Gespräch dauerte vielleicht 15 Minuten oder 5 oder 30 Minuten. Was ist schon Zeit? Ich hatte schon lange mein Zeitgefühl verloren. Ging es mir danach besser? Keine Ahnung! Ich kann mich nicht daran erinnern.
Doch dieser trügerische Geselle nagte an meinem Stuhl und ich kam immer mehr ins Wanken. Meine Freundin hob mahnend den Finger und ich wusste es auch nur zu gut. Es schrie regelrecht wie ein Mantra durch meinen Kopf. DU RUFST DA NIE WIEDER AN. Hörst Du? NIE WIEDER. Los wiederhole es. ICH WERDE DA NIE WIEDER ANRUFEN.
Ich habe nicht angerufen. Kann aber sein, dass ich ihm aus Versehen eine Nachricht geschickt habe.
Was ist die Steigerung von dumm? Dumm, dümmer, Julusch. Es gibt viele Emotion, die einem die Sinne vernebeln. Verzweiflung und Kummer sind sicher auch ganz vorne mit dabei. Ich war ein extrem stolzer Mensch, nein, ich bin ein verdammt stolzer Mensch. Jeder noch so kleine Schritt in seine Richtung, fühlte sich für mich wie betteln an. Ich tat es trotzdem.
Die Versuchung mich einfach „zusammenrollen zu können“ und mir meinen Kopf streicheln zu lassen, war einfach irgendwann zu groß. Für ein paar Minuten keine Kämpfe mehr gegen übermächtige Windmühlen, nur Frieden und Ruhe und Schutz. Wir telefonierten am Ende der Woche und er hatte sehr gute Laune. Seine Stimme war glockenklar. WUNDERBAR. Ich musste mehrmals ansetzen, bis ich das Telefonat beenden konnte. Irgendwie hatte er an dem Tag unendlich viel „Babbelwasser gesoffen“ wie wir Hessen sagen.
Mit der Prägung der Menschen ist das schon seltsam. Es spielte überhaupt keine Rolle über was wir sprachen, er hätte mir auch das Werbeblatt vom nächsten Supermarkt vorlesen können, mir reichte vollkommen dieser Singsang seiner Stimme. Zumindest für diesen Tag hatte meine Welt etwas von ihrer Bedrohung verloren.
So schön es war, zeitlich passte es nicht ganz in mein Konzept. Ich bin ein etwas anderer Mensch. Und ich mache viele Dinge, die anderen etwas seltsam erscheinen mögen. Denn an diesem Tag war ich mit seiner Freundin verabredet. Warum ich das machte? Ganz einfach. Ich war oft nicht sehr nett zu ihm gewesen. Und erst sehr spät merkte ich, dass er doch nicht das taffe Kerlchen ist. Einige „Klatschen“ muss man leider im Nachhinein als verletzend und nicht nur schmerzhaft bezeichnen. Ich wollte ihn aber wirklich nie mit Absicht verletzen. Warum auch? Er war mir viel zu wichtig.
Diese Treffen waren meine Art, das ein wenig wieder gutzumachen. Lieb mich – hass mich – aber ignorier mich nicht. Für mich ist Gleichgültigkeit das schlimmste überhaupt. Also bestand ich vor so einem Treffen immer lauthals darauf, dass er bloß nicht mitkommen darf. Ob sie es ihm jemals sagte? Keine Ahnung, aber das wissen das ich immer noch leide und damit nicht abschließen kann, war definitiv sehr gut für sein Ego. So war er halt.
Aber ich konnte mir nichts vormachen, ich war eigentlich nicht in einem Zustand, um mich auf dieses Spiel mit ihm wieder einzulassen. Viel hilft nämlich nicht immer viel. Und so kam der Tag, an dem ich wegen einer Nichtigkeit, die Contenance verloren habe. Wenn er etwas ist, dann so zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk. Wir wollen am Montag 17.00 Uhr telefonieren? Dann ist er da oder schickt eine Nachricht, dass er sich einige Minuten verspätet. Kommt etwas dazwischen, dann meldet er sich. Er war immer 100 Prozent zuverlässig. Bis auf ein einziges Mal. Ein einziges Mal. Ihr erinnert euch noch warum ich das hier schreibe?
Zu Beginn habe ich es gar nicht richtig wahr genommen, dass der Termin kam und ging, und er sich nicht meldete. Erst einige Zeit später realisierte ich es und wunderte mich etwas. Ich nahm mir vor ihm später oder morgen eine Nachricht zu schreiben. Irgendwas musste passiert sein. Der Abend verstrich und ich wollte ins Bett gehen, da sah ich, dass er vor einigen Minuten Online gewesen ist. Und genau in der Sekunde fiel mir genau das ein, was ich euch oben geschrieben habe. Er war immer zuverlässig, bis auf ein einziges mal. Er hat mich wieder fallen lassen.
Der Schlag kam so unvermittelt, dass es mich im wahrsten Sinne des Wortes von den Füßen gehauen hat. Meine Knie knickten weg und ich sank zu Boden. Alle Schleusen gingen auf und ich weinte nur noch, ich konnte gar nicht mehr aufhören, konnte es nicht stoppen, mich zusammenreißen, ich konnte gar nichts mehr machen. Ich bekam keine Luft mehr, war zu nichts fähig und wäre einfach am liebsten dort, genau auf dieser Stelle gestorben. Und das meine ich nicht sinnbildlich.
Alles bahnte sich seinen Weg – alles – all das schlechte das ich erdulden musste – alles. Das Kartenhaus brach in sich zusammen. Ich brach in mir zusammen. Komplett.
Nachts schrieb ich ihm noch eine Nachricht. Kurz und knapp. Zu mehr war ich auch nicht fähig. „Ernsthaft? Schon wieder?“
Irgendwann in den frühen Morgenstunden muss ich eigeschlafen sein. Nach kurzer Zeit wurde ich wieder wach, weil ich kaum Luft bekam. Am Morgen rief er mich an. Ich habe es noch nicht mal mitbekommen. Ich lag zusammengerollt auf dem Fußboden und weinte. Er schrieb mir eine Nachricht, entschuldigte sich und erklärte mir, warum er sich nicht gemeldet hat. Ich schrieb eine gar nicht nette Nachricht zurück. Einige Tage später sprachen wir auf meinem Wunsch miteinander. Seine Stimme war dunkel und rauchig und er war distanziert und kurz angebunden. Ich fühlte mich elend und wollte mich entschuldigen, aber ich schaffte es nicht. Ich schaffte es nicht. Auf meine nächste Nachricht bekam ich noch eine Antwort. Auf die nachfolgenden nicht mehr. Nie mehr.
Ja, er hatte es wieder getan.
Ich sagte ihm, dass ich durch die Hölle gegangen bin.
Ich sagte ihm, wie sehr mich sein Verhalten verletzt hat.
Ich sagte ihm, dass ich damit einfach nicht klar gekommen bin.
Ich sagte ihm sogar, dass ich ihn unglaublich lieb hatte.
Ich sagte ihm fast alles.
Offen und ehrlich.
Ja, er hat es wieder getan. Ich war ihm wieder keine zwei Worte wert. Nur diesmal wusste er, auf was für einen Weg er mich schickt. Es machte ihm anscheinend trotzdem nichts aus.
Diesmal hat er es wenigstens richtig gemacht. Während ich am Boden lag – schon wieder – ging er noch ein paar Schritte zurück und nahm Anlauf. Und dann hat er ordentlich nachgetreten. Er wollte wohl sicher gehen, dass ich nie wieder aufstehe. Warum auch?
Ich fand wir waren ein ganz gutes Team, das in der Realität nicht überdauern konnte. Nicht einen einzigen Tag.
Er war nicht annähend die Person, die ich in ihm gesehen habe. Ich sitze hier mit Tränen in den Augen, und hoffe das er diese Zeilen nie lesen wird. Warum? Weil er es nicht verstehen wird. Und ich bin immer noch zu Stolz, zumindest ihm gegenüber zuzugeben, welche Rolle er in meinem Leben inne hatte. Gesagt habe ich es ihm natürlich nie, noch nicht mal angedeutet. Warum auch?
Ich vermisse Bôdaway, meinen ersten Ritter – noch genauso wie am ersten Tag. Ich vermisse den Mann, den es nie gab, denn er hätte mich niemals auf diese Art verletzt und verlassen. Und zweimal schon gar nicht. Niemals.